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„Geschichte wiederholt sich nicht. Sie reimt sich.“

Armin H. Flesch referiert vor Q4-Geschichte-Kursen über die „Erben der Arisierung“

Der Vortrag beginnt mit einem Film, der Menschen zeigt, denen Eintopf aus großen Töpfen ausgeteilt wird, die anstehen, um Kleidungspenden zu erhalten. Dies sind Bilder, die man aktuell in den Nachrichten sehen kann, wenn es um Flüchtlinge aus der Ukraine geht. Doch der Film zeigt Szenen aus dem Jahr 1943; die Stadt ist Frankfurt. Die Szenen zeigen Menschen, die ausgebombt wurden und die Hilfe erhalten. Bei der Kleidung, die ausgegeben wird, handelt es sich jedoch nicht um Spenden, sondern um Kleidung, die Juden gehört hat; Kleidung, die „arisiert“ wurde.

Am Dienstagvormittag hat der Journalist Armin H. Flesch vor dem Abiturienten der Wilhelm-von-Oranien-Schule seinen Vortrag „Erben der Arisierung“ gehalten. Mit Arisierung wird die Enteignung von Besitztümern, die Juden gehören, in der Zeit des Nationalsozialismus bezeichnet.

Der Referent beschrieb zunächst die Phasen der Entrechtung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im NS-Staat, bevor er die Frage nach der Kenntnis der deutschen Durchschnittsbevölkerung von der Shoa stellte und klar aufzeigte, dass die oft gehörte Behauptung „Wir haben davon nichts gewusst“ unhaltbar ist. Zeitungsannoncen, die Versteigerungsaktionen nichtarischen Besitzes ankündigen, sowie Fotos von Hausratsversteigerungen zeigen, dass die Käufer wussten, dass ihre jüdischen Nachbarn nicht mehr zurückkommen und ihr Eigentum nicht mehr zurückfordern würden. Die Fotos zeigen die gute Stimmung der Schnäppchenjäger, die Uhren, Handtücher, Möbel und andere Haushaltswaren meist für ein Drittel des Normalpreises ersteigern konnten. „Arisiert oder erworben?“, ist eine Frage, die sich Erben stellen sollten und die der Journalist auch an die anwesenden Abiturienten weitergab: Prüfen Sie, ob die Taschenuhr, der Diamantring oder die Möbel des Esszimmers zu dem finanziellen Hintergrund ihrer Familie passen oder ob es sich dabei um ein „Schnäppchen“ handeln könnte, dass bei einer Arisierung ersteigert werden konnte.

Von der persönlichen Vorteilsname der Volksgenossen, die vom Leid ihrer jüdischen Nachbarn profitierten, zog Flesch den Bogen zu weiteren Formen der Arisierung: Er berichtete über die unmenschliche Ausbeutung der NS-Opfer als Zwangsarbeiter, die Weiterverarbeitung von Haaren zu Perücken und Filzdecken, das eingeschmolzene und wieder verwendete Zahngold sowie die Nutzung von tätowierter Haut der im Konzentrationslager ermordeten Menschen für Lampenschirme. Der NS-Staat machte bei seinen Arisierungsbemühungen auch vor einer umfassenden Verwertung des Körpers der Holocaustopfer nicht halt. Von Glück könne man reden, dass in der NS-Zeit die Errungenschaften der heutigen Transplantationsmedizin noch nicht bekannt gewesen seien, so der Referent. „Man will nicht spekulieren, welche Verwertungsmöglichkeiten das NS-System für die Organe der KZ-Häftlinge noch gefunden hätte.“

Zentraler Bestandteil des Vortrags war die Arisierung zweier heimischer Firmen: Die Frankfurter Firma der Gebrüder Vogel, eine Zulieferungsfirma aus der Automobilherstellung, stellt dabei das klassische Beispiel der Arisierung dar. Die jüdischen Eigentümer werden 1935 aus der Firma herausgedrängt und zwei nichtjüdische Angestellte übernehmen die Geschäftsleitung: Aus „Gebrüder Vogel“ wird „Elsen & Hemer“. Die Firma besteht bis heute. 100 Jahre später feiern die Nachkommen der Ariseure die „100 Jahre Familientradition“ von „Elsen & Hemer“, die „auf die Firmengründung im Jahr 1914“ zurückgehe.

Als zweites Beispiel beschrieb der Referent die 1937 erfolgte Arisierung der Lahnsteiner Chemiefabrik "Flesch-Werke AG", deren Ariseure auf die Unterstützung eines Geflechts aus NSDAP-Funktionären, Justiz und der Dresdner Bank bauen konnten. Aus der „Flesch-Werke AG“ wurde „Zschimmer & Schwarz“, die bis heute bestehen und deren Internetauftritt keinen Hinweis auf die erfolgte Arisierung liefert.

„Wer profitierte vom legalisierten Raub und Mord an den europäischen Juden? Wie verhalten sich heutige Eigentümer arisierter mittelständiger Familienunternehmen? Welche Bedeutung hat die Arisierung für das Verständnis des Holocaust und der deutschen Gesellschaft vor und nach 1945?“ Diesen Fragen ging der Journalist Flesch in seinem Vortrag nach, der nur in einem sehr entfernten Verwandtschaftsverhältnis zur Familie des Gründers der „Flesch-Werke AG“ steht.

Zum Ende verwies der Referent auf aktuelle Ereignisse: Über 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werde erneut ein europäisches Land von seinem Nachbarn ohne Vorwarnung angegriffen. Diesmal sei es die Ukraine und der Aggressor Russland. Flesch appellierte an die Abiturienten, wachsam zu sein, die Demokratie zu achten und sich gegen die Anfänge der Diskriminierung von Minderheiten zu wehren. Denn, so seine Mahnung, „Geschichte wiederholt sich nicht. Sie reimt sich.“

2022
copyright Text: Kerstin Renkhoff, WvO
copyright Foto: Markus Hoffmann, WvO
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